Leseprobe – Lebe vorwärts

Eins

Wie oft hatte ich darüber nachgegrübelt, wie ich es den Kindern wohl am besten sagen würde. Hatte mir all die Formulierungen durch den Kopf gehen lassen, die das Sterben beschönigen, dem Wort »tot« die Schärfe nehmen sollen.

Papa ist für immer eingeschlafen.

Was für ein Quatsch! Was sollen Kinder, speziell Sophie, sich darunter vorstellen? Wer einschläft, der wird nach kindlichem Verständnis auch irgendwann wieder wach. Und »für immer« ist viel zu abstrakt. Eine solche Wortwahl kam also auf keinen Fall infrage.

Papa ist jetzt im Himmel.

Ich ahnte Sophies berechtigte Fragen im Voraus: Was macht er da? Wie ist er da hingekommen? Und wann kommt er wieder runter?

Auch keine Lösung. Eher noch schlimmer.

Wie so oft war ich zu der Einsicht gekommen, dass es nur einen Weg gab: den ehrlichen. Klare Worte, die die Dinge beim Namen nannten. So, wie wir immer ehrlich mit den Kindern gesprochen hatten. Auch wenn es der schmerzhafteste Weg war. Unsere Aufrichtigkeit war die Basis für das tiefe Vertrauen, das die Kinder uns entgegenbrachten.

Sekundenlang blieben die Gesichter meiner Kinder völlig ausdruckslos. Genau wie ich eine halbe Stunde zuvor brauchten auch sie ihre Zeit, die Wucht des Geschehens zu begreifen. Dann versteinerten Davids Züge, während sich in den Augen der Mädchen Tränen sammelten. Alle drei beobachteten mich. Und alle sagten kein Wort.

Meine Jüngste bewegte sich als Erste. Sie stand auf, kam zu mir und kuschelte sich an mich. Kurz darauf folgte Kristin ihrem Beispiel. David schien mit sich zu kämpfen, doch am Ende hielt ich auch ihn im Arm. Noch immer war kein Wort gefallen. Erst mussten wir zusammenrücken, uns gegenseitig Nähe, Wärme, Halt und das Gefühl der Zusammengehörigkeit schenken.

Zwei

… Der letzte Umschlag enthielt ein Schreiben von Peters privater Rentenversicherung.

»Sehr geehrte Frau … bla, bla, bla … übersenden wir Ihnen hiermit Ihren Rentnerausweis, den Sie bitte zukünftig …«

Meinen was? Geschockt starrte ich auf die beigefügte Karte. Tatsächlich. Mein Rentnerausweis. Ich war gerade mal 38 Jahre jung und hielt einen Rentnerausweis in den Händen, auf dem mein Name stand. So schnell konnte man also altern! Rentnerin. Witwe. Sonst noch was? Ach ja, eine Gefahr für die Partnerschaften meiner Freundinnen. Der Tag hatte es echt in sich!

Mit spitzen Fingern legte ich das Ding beiseite. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte. War es komisch oder eher tragisch? 

»Ab jetzt kannst du überall verbilligte Seniorentickets kaufen!«, feixte meine innere Stimme. »Und im Bus stehen die jungen Leute unter sechzig für dich auf! Wenigstens können deine Freundinnen aufatmen. Du als strickende Schaukelstuhl-Oma stellst keine Konkurrenz mehr dar.«

»Dumme Nuss!«, brummte ich griesgrämig.

»Solltest du jemals wieder heiraten, erlischt dein Rentenanspruch. Grund genug, dich in ein paar Jahren auf den Kaffeefahrten mal unter den Achtzigjährigen umzusehen«, alberte es glucksend in mir weiter. Ich konnte nicht anders, als mitzulachen, verbannte den Ausweis jedoch sofort in den hintersten Winkel meines Dokumentenfachs. Rentnerin! Ich! Über dieses Ding würde ich absolutes Stillschweigen bewahren!

»Kathrin, stell dir vor, ich habe vorhin einen Rentnerausweis aus der Post gefischt!«

So viel zum Thema Stillschweigen. Mein Mundwerk war mal wieder schneller als mein Verstand. Wie erwartet kicherte meine Freundin am Telefon los. Dann sagte sie trocken:

»Prima. Da sparst du in den Bonner Museen einen Euro Eintritt! Grund genug, bald herzukommen – nebenbei gibt es in den Restaurants vorzügliche Seniorenmenüs!«

»Danke, du bist eine echte Freundin.«

»Wer den Schaden hat, braucht für den Spott … du weißt schon! Nein, ernsthaft, sei doch froh darüber. Ohne deine Witwenrente und die Halbwaisenbezüge hättest du mit Sicherheit ein paar Probleme mehr.«

»Ich weiß. Es sieht so aus, dass ich mit meiner Teilzeitstelle finanziell zurechtkommen werde. Dadurch habe ich glücklicherweise mehr Zeit für die Kinder.«

»Und die brauchst du ganz dringend. Also sei froh und dankbar, dass Peter euch abgesichert hat. Was meinst du denn, ab wann du wieder arbeiten gehst?«

»Tja.« Sie hatte ein heikles Thema angesprochen. Wieder arbeiten zu gehen bedeutete, den schützenden Kokon meines Hauses zu verlassen und einen großen Schritt in die »normale« Welt zu tun. In meinem Fall hieß es zusätzlich, dass ich auf all die Kollegen träfe, die Peter gut gekannt hatten. Meine Fantasie gaukelte mir mitleidige Blicke und einen Spießrutenlauf vor, was mir ein flaues Gefühl im Magen bereitete. Außerdem schreckten mich die Patienten ab. Die, die Krebs hatten. Die, die in absehbarer Zeit sterben würden. Die, die nicht wissen konnten, was sich hinter der MTA verbarg, die Röntgenbilder von ihnen anfertigte.

Drei

…Wie immer, wenn ich sie gern festhalten würde, rannte die Zeit davon. Täglich telefonierte ich ein paar Minuten lang mit mindestens einem meiner Kinder. Dabei nahm ich zur Kenntnis, dass alle noch lebten, dass, von kleineren Problemen abgesehen, alles halbwegs glatt lief und dass meine Mutter besser kochte als ich. Beruhigt schob ich die Gedanken an meine Familie gleich wieder weit weg. Das hier war meine Zeit, die ich intensiv nutzte und ohne schlechtes Gewissen genoss. Kopfschmerzen und Rückenbeschwerden waren wie weggeblasen, obwohl Eva und ich uns über die verordneten Therapien hinaus viel bewegten.

»Nicht obwohl, sondern weil Sie sich so viel bewegen«, erklärte mir die Ärztin des Kurheimes drei Tage vor der geplanten Abreise.

»Aber zu Hause bin ich doch auch andauernd in Aktion.«

»Das ist etwas anderes. So, wie Sie mir Ihren Tagesablauf geschildert haben, arbeiten Sie unter Druck. Und vielfach unter selbst auferlegtem Druck. Symptome wie Kopf- und Rückenschmerzen haben nicht immer nur organische Ursachen. Sehr oft sind sie die Folgen totaler Verspannung, die wiederum eine Konsequenz seelischer Belastungen ist. Als Sie ankamen, war Ihre Rückenmuskulatur extrem verhärtet. Inzwischen ist sie viel weicher. Das liegt sicher teilweise an den ganzen Massagen und gezielten Übungen, die ich Ihnen verordnet habe. Aber zum Teil eben auch daran, dass Sie hier loslassen konnten. Ihre Sorgen, Ihre Kinder, denen es auch ohne Sie gut geht – aber auch Ihren Mann.«

Ich starrte sie böse an. Das klang ja alles irgendwie logisch, aber …

»Ich will meinen Mann doch gar nicht loslassen. Was heißt das überhaupt? Ihn zu vergessen?«

»Nein, ganz sicher nicht. Nur, zu akzeptieren, dass Ihr weiteres Leben ohne ihn stattfindet. Sie mögen nach Jahren nicht mehr andauernd traurig sein, aber ich habe den Eindruck, dass er noch immer eine, wenn nicht gar die zentrale Rolle in Ihrem Denken spielt.«

So, wie sie es sagte, klang es wie eine schwere Verfehlung. Ich wollte schon zornig aufbrausen, da legte sie begütigend ihre Hand auf meine.

»Bitte, ich will Ihnen nichts Böses. Ich möchte nur, dass Sie sich bewusst machen, dass Ihr Mann eine Strecke Ihres Lebens mit Ihnen gegangen ist, dann aber stehen bleiben musste und Sie nicht weiter begleiten durfte. Hier auf Juist gibt es keine verbindenden Erinnerungen an ihn, sodass Sie hier frei und unbeschwert sein konnten. Doch zu Hause leben Sie beständig zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit. Erst wenn es Ihnen gelingt, die gemeinsamen Jahre wirklich als beendet anzusehen, werden Sie im Jetzt ankommen und frei für die Zukunft sein. Das heißt nicht, dass Sie vergessen sollen. Nehmen Sie all die Impulse, die schönen Momente, das Glück, das Sie in der Vergangenheit erleben durften, als Basis für Ihr weiteres Leben. Aber leben Sie vorwärts, lösen Sie das Band, das Sie immer wieder zurückzieht. Freuen Sie sich darauf, in drei Tagen nach Hause zu fahren, Ihre Kinder in die Arme zu schließen und von diesem Zeitpunkt an vertrauensvoll nach vorn zu blicken. Nehmen Sie den Tod Ihres Mannes an. Vor allem aber, nehmen Sie sich selbst an!«

»Aber das habe ich längst getan.« Mein Protest klang lahm. Sie lächelte sehr herzlich.

»Sie sind noch immer auf dem Weg. Doch ich bin sicher, dass Sie Ihr Ziel erreichen werden.«